Leseproben


Tita. Das Vermächtnis

Prolog

Martha schlug mir Freinsheim vor, als wäre es möglich, mir vorzuschlagen, wo sich diese Geschichte ereignen sollte. Als wäre nicht sicher, dass sie sich überhaupt ereignet hätte. Sie tat ganz so, als ob sich diese Geschichte ihren Standort noch aussuchen dürfte, als wäre es geradeso denkbar, dass Wasser sich die Gradzahl seines Gefrierpunkts selbst erwählte, an einem schönen Tag, als gäbe es diese Nullstelle nicht, dieses Nichts. So, als dürfte man sich über Naturgesetze hinwegsetzen, weil es ja auch ein Zufall sein könnte, dass das einfache Oxid des Wasserstoffs bei null Grad gefror und bei einhundert sott.
Sie sah so sauber aus, damals, in ihrem strengen Hosenanzug, mit der frischen Dauerwelle, dem feinen Brillengestell, der Zigarette mit Mundstück.
Wenn ich heute an sie denke, dann bin ich mir sicher, dass sie ihre Zigaretten während unseres Gesprächs mit Mundstück rauchte, obwohl ich ihr andererseits strikt verboten hatte, in meinem Haus zu rauchen: aus hygienischen Gründen und weil mich ihr Rauchen an meine eigenen Sucht erinnerte, die ich nur mit psychologischer Hilfe überwunden hatte, unter Zwang und viel zu spät: Zum einen, weil ich seit Jahren unter einer Bronchitis litt, die sich unter der permanenten Einwirkung von Teer und Kondensat nicht bessern konnte, und zum anderen erst mit fünfunddreißig Jahren, was für eine Frau ein halbes Todesurteil sein konnte und auch für mich ein halbes gewesen wäre - wäre mit mir nicht alles ganz anders gekommen.

Noch heute sehe ich Martha am Haus vorbeigehen. Jedes Mal bleibt sie am Zaun stehen und wirft über die wild wuchernden Brombeeren einen Blick auf die Fenster, doch sie tritt nicht mehr ein. Es wäre ein Leichtes für sie, das Gartentürchen aufzustoßen, die wenigen Schritte zur Haustür zu gehen, ihre schmale Hand auf die Türklinke zu legen. Sie könnte eintreten, sie weiß es. Andere wissen es nicht, doch sie kennt sich aus.
Und immer, wenn ich überlege, wann sie zuletzt ihren Fuß über meine Schwelle setzte, zieht mir jener feine, vertraute Geruch in die Nase vom brenzligen Glimmen des Papiers an der Zigarettenspitze. Und dann sehe ich auch wieder dieses Mundstück vor mir: es war schwarz und schlank und ohne jede dekorative Auffälligkeit, und an seinem verbreiterten Ende klebten ständig Spuren von fettigem Lippenstift, wenn sie es aus dem Mund nahm.

Martha redete schnell, fehlerfrei und ohne jede Dialektfärbung. Gestikulierte sparsam. Nutzte gern eine störrische Stirnlocke, die sie sich gekonnt mit einem Finger aus dem Gesicht strich, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich bewunderte sie für ihre Disziplin, sich ganz und gar ihrem Gesprächspartner und dessen verworrener Geschichte zuwenden zu können, ohne nur mit einer einzigen Regung zu verraten, was sie darüber dachte. Gern spielte sie auch mit ihrer filigranen Lesebrille, die sonst wie ein Schmuckstück auf ihrer sommersprossigen, gepuderten Nase saß. Das feine, goldene Gestell baumelte unter ihrer Hand wie ein Pendel, und sie selbst lehnte sich gemütlich in einem der schweren Sessel vor meinem Kamin zurück, schlug ihre langen Beine kunstvoll übereinander, schaute mich auf ihre unnachahmliche Weise an und sagte: "Nun komm schon: Erzähl!"

Wir sprachen über die Liebe, damals. Ich erinnere mich gut: unser letztes, gemeinsames Gespräch, bei dem wir Kaffee tranken und wunderbar weiche Biskuits aßen, war ein Gespräch über die Liebe, ein sogenanntes "Frauengespräch". Allerdings sprachen wir über die Liebe in einer solchen Verkrampftheit, dass es den Anschein hatte, als ob wir lieber geschwiegen hätten. Dabei hatten wir uns ausdrücklich zum Reden verabredet. Dennoch war es am Ende ein ziemliches Gestammel, weil Martha mit Kevin liiert war, einem Deutsch-Amerikaner, der Übersetzer war beim Auswärtigen Amt und, wie sie lamentierte, kompliziert verheiratet, und ich für meinen Teil ein Verhältnis hatte mit einem Mann namens Simon, wenn man das ein Verhältnis nennen kann.
Unter normalen Umständen wäre Simon unsere Rettung gewesen, denn Martha weigerte sich standhaft, mir zu erklären, was kompliziert verheiratet im Einzelnen bedeutet. Normalerweise hätten wir uns also zum Ersatz über Simon unterhalten können, seine Vorlieben und Schwächen, die kleinen Geschenke, die er mir machte, die Art, wie er sich kleidete, die Telefonate, die er mit mir führte und all die anderen anrührenden Kleinigkeiten, die eine Beziehung so kostbar machen. Doch mit Simon hatte es seine Eigenart: Seine Vorlieben und Schwächen lernte ich nie kennen. Wenn er anrief, dann rief er nicht mich an. Und schenkte er mir etwas, dann war auch das nicht wirklich für mich bestimmt. Auf eine unheimliche Art trug er immer dasselbe, als besäße er nur diese Kleidung: Wollpullover und Flanellhose in fast schwarzem Anthrazit und darüber eine Lederjacke, eine Aufmachung, in der er so beliebig aussah, dass ich ihn nicht zweifelsfrei hätte beschreiben können, hätte jemand wegen einer Zeugenaussage bei mir nachgefragt.
Wenn ich an Simon denke, dann erscheint er mir stets dunkelgrau, ein Kind der Nacht. Und auch die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit ist grau, nicht nebulös, sondern eher von einer erschreckenden Dunkelheit.
So war Simon kein ergiebiges Thema für uns, obwohl Martha sich heftig für ihn interessierte, umso heftiger, je mehr sie von Kevin abzulenken versuchte, und ausdrücklich von Berufs wegen, wie sie betonte - was ich im Zusammenhang mit unserer Freundschaft allerdings nicht ganz verstand.

Ich will Martha in der Standortfrage, Freinsheim oder nicht Freinsheim, am Ende der Geschichte noch einmal zu Wort kommen lassen, weil sie gerne resümierte (ich sollte besser sagen: zum Zeitpunkt ihres Austritts aus dieser Geschichte, weil jener mit dem wirklichen Ende aus besonderen Gründen nicht identisch ist). Einstweilen jedoch soll Simon Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte sein, einer zwiefachen, einer mysteriös verdoppelten Geschichte, die mich in einige Not bringt, weil ich nicht weiß, wie ich am besten mit ihr beginne.
...



"Tita. Das Vermächtnis" gibt es als Taschenbuch und als E-Book bei Amazon. Link zu Preisinfo und Bestell-Seite:

Tita. Das Vermächtnis


Rechtlicher Hinweis

Sämtliche veröffentlichten Texte sind urheberrechtlich geschützt. Ein Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit ausdrücklicher, schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet!

↑ nach oben


↑ nach oben
Vincent. Stationen eines Abschieds Tita. Das Vermächtnis Das Buch - Die Geschichte einer Manipulation Sommer und längere Geschichten Die Kleiderfrage Brieftaube Paula erzählt ...
Alle Bücher
Rechtlicher Hinweis
E-Mail-Kontakt
Presse / Rezensionen
Bestellen
Startseite