Leseproben


Sommer und längere Geschichten

Sommer:

Schon werden die Tage kürzer. Am Himmel tiefziehende Wolken in schlammverwandtem Grau. Wie ausgebreitete Strandlaken liegen die Felder in der hügeligen Landschaft: Viel Grün und reifes Gold, nur diese beiden Farben. Bald schon wird das erste Korn geschnitten sein und die Scholle hervorkommen, der uralte, millionenfach gewendete Boden. Ein allererstes, zaghaftes Bild des unvermeidbar nahenden Herbstes, eilig übermalt von der nachfolgenden Saat, denn: noch soll, noch darf es soweit nicht sein.
Ich sitze am Feldrand, irgendwo im Gäu, in der eigentümlichen Stille dieses zaudernden Sommers. Ausgestattet nur mit Stift und Papier, sitze ich unter einem tiefen, grau getuschten Himmel, in eben jenem Stillleben, über das mein sensationsversessener, seziererischer Blick, unter der Woche und aus dem fahrenden Auto heraus mal schnell auf die Gegend geworfen, so gerne hinwegschweift: In einer Landschaft in ihrem ganz alltäglichen Glanz. Zum Greifen nah wölbt sich im Westen die Haardt auf, jene rundgeschliffenen, gemütlichen Buckel, die für einen, der aus der Ebene heraufkommt, schon automatisch nach Ferien ausschauen.
Über den Erlen am nahen Bach kreist ein Habichtweibchen. Erste Stare sammeln sich in kleinen Schwärmen über den Rebzeilen. Noch ist es nicht Zeit, doch vorsorglich stecken sie schon ihre Reviere ab. Kein blauer Himmel im Hintergrund dieses bewegten Bildes, keine Kondensstreifen der Flugzeuge auf Reisehöhe, die beliebten, so sehnsüchtig erwarteten Kreidezeichnungen jedes Sommers. Auch heute wird sich die Sonne fragen lassen müssen, ob sie ihr Tagwerk tatsächlich vollbracht hat. Schon riecht es nach Regen.
Es wird ein Wald- und Wiesensommer werden. Leiser und bescheidener diesmal. Ein Sommer für die Bauern. Beschäftigungslos wie überzählige Blutgefäße liegen die Bewässerungsrohre in den Furchen. Waffenruhe nach der Hitzeschlacht des vergangenen Jahres. Ja, ich fürchte, es wird schon wieder ein Sommer der Wann-wird-es-mal-wieder-richtig-Sommer-Fragen werden, ein Sonnenstudio- und Last-Minute-Reisen-Sommer.

Mein Laptop wäre hier ein exotisches Tier, ausgesetzt in lebensbedrohlicher Umgebung. Darum sitze ich nur mit Stift und Papier im Grünen, um diesem Sommer seine Geschichte abzulauschen: Mit einem Stift, der längst ein Kugelschreiber und kein Bleistift mehr ist, man sagt nur aus Gewohnheit noch so, und auch das Papier ist kein loses Blatt mehr, sondern ein kleiner, gummierter Block, gerade groß genug, um bequem von mir übers Knie gelegt zu werden. Schreiben "auf die alte Art". Schreiben ohne einen Menschen in meiner Nähe, der mich entschuldigen und bei Bedarf rasch in den Fokus meiner Betrachtung rücken könnte. Ein Schreiben im Angesicht des Kitschverdachts.
Vieles hier scheint endemisch zu sein: Der Verkehrslärm der nahen Bundesstraße, der mit dem Wind herüberweht und wie der Pulsschlag dieser Landschaft klingt. Die Feldlerchen, die hier noch ihre Brutplätze haben und unvermittelt purzeln und tirilieren, wenige Meter über meinem Kopf. Die Saisonarbeiter, die ein fernes Feld abschreiten, willkommene Farbtupfer in ihren roten und blauen Shirts neben der knallgelben Plane eines Gemüseanhängers.

Donnernd zerschneiden zwei Tiefflieger den Himmel nach einem nur ihnen bekannten Schnittmuster. Dann ist es wieder still.
Gemächlich wie trächtige Kühe ziehen schwere Regenwolken übers Land. Schon fallen die ersten Tropfen. Ich stehe auf und klopfe mir eingebildeten Staub aus den Kleidern. Das vom Regen gemästete, fette Grün am Feldrand wird meine Spuren bestimmt nicht lange bewahren. Ich vermute, dieser Sommer wird mir ein ferner Freund bleiben, von dem ich in diesem Jahr nur wenig höre. Eine kleine, banale Geschichte vielleicht, irgendwann in den kommenden Wochen, hingekrakelt auf eine Postkarte. Mein eigenes Papier, es wundert mich nicht, ist weiß geblieben.
Zurück zu Fuß, übers Feld, hinein ins Dorf. Gerade haben dort die Schulbusse die Kinder für die großen Ferien an ihre Familien zurückerstattet. Wie vor Jahr und Tag werden ihnen die Alten, die es zu wissen meinen, raten, die Zeit nicht so zu vergeuden. Und wieder werden sie den Schulabgängern, die künftig keinen Schulbus mehr besteigen, mit sorgenvoller Miene verkünden, es stehe ihnen nun der "Ernst des Lebens" bevor. Wieder werden es die Jungen nicht glauben. Doch wieder wird es wahr sein: Nie wieder wird ein Sommer für sie so einzigartig sein wie dieser: Gedankenleicht noch einmal frei sein, wenn auch nur für eine geborgte Zeit.
Heim, hinein in die Häuserzeilen. In eine Umgebung, in der ich trotz Kurzsichtigkeit ohne Brille ganz gut auskomme und mir einbilden kann, auf diese Art schon alles gesehen zu haben. Ein Schwalbennest unter der Traufe - immerhin. Vier, fünf scheltende, festlich schwarz-weiß befrackte Sommerboten. Der Nachwuchs, obwohl schon flügge, sitzt noch im Nest, weil es dort so gemütlich ist. Unvermittelt gleißende Helle: Mit dem gedämpften Optimismus einer Rekonvaleszentin fädelt die Sonne ein paar Strahlen durch ein kleines blaues Nadelöhr in der Wolkendecke. Heiß stechen sie hier unten auf meine Haut. Und dann denke ich: Doch, also doch - es ist Sommer.
...



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