Leseproben


Die Kleiderfrage - Ein Stück in fünf Akten

Personen:

• VATER: Maurerpolier, Mitte vierzig
• MUTTER: Hausfrau, Mitte vierzig
• SOHN: Schüler, sechzehn
• AUTOR: Anfang fünfzig, mit amerikanischem Akzent
• GERMANISTIKSTUDENTIN: Anfang zwanzig


Bühnenbild

Das Bühnenbild ist in allen fünf Akten gleich: zwei nebeneinander liegende Räume, ein Arbeitszimmer und eine Küche. In der Mitte der Bühne sind beide Räume durch eine hohe Wand getrennt und weder durch eine Tür noch durch ein Fenster miteinander verbunden.
Die trennende Wand endet vor dem Bühnenende, so dass ein darum Herumgehen möglich ist. An dieser Stelle steht ein großer Kleiderschrank, der von der Küche her zu öffnen ist.

LINKER RAUM:
Das Schreibzimmer des Autors. Tisch, Stuhl, ein Regal mit Büchern, ein Abfalleimer (sichtbar gefüllt). Auf dem Boden mehrere Weinflaschen. Eine Tür nach hinten in einen Flur soll weitere Räume andeuten. Auf dem Schreibtisch: Viel Papier, Manuskripte, Bücher, Stifte (Achtung: nichts, das zerbrechlich sein könnte).
Der Autor ist ganz in Schwarz gekleidet. Wichtig ist, dass er ein Hemd trägt.

RECHTER RAUM:
Die Küche, sparsam möbliert: Ein Kühlschrank, eine Arbeitsplatte entlang der Trennwand zum Autorenzimmer. Ein Besenschrank, Stühle, ein Tisch, ein Herd. An der Wand ein Abreißkalender, eine Uhr. Eine Tür nach hinten zum Flur. Im Besenschrank: eine Spitzhacke und ein langer Strick. In der Kulisse für den fünften Akt vorzuhalten: eine mechanische Schreibmaschine und ein Laptop. Weitere Details im Text.
Der Autor ist gerade im Begriff, eine Frühstücksszene zu schreiben. Dieser "Raum" ist also die Küche in seiner Phantasie.

IM KLEIDERSCHRANK:
Für die Mutter: Ein rosa Negligee, ein Abendkleid, ein weißer Bademantel, Gesundheitslatschen, hochhackige Pumps.
Für den Vater: Ein Nadelstreifenanzug, Hemd, Krawatte, Zunftkleidung (Cordhose, Jacke, Weste), Straßenschuhe, Arbeitsschuhe.
Für den Sohn: Ein Taucheranzug mit Taucherbrille und Flossen, Jeans, T-Shirt, Baseball-Kappe, Sportschuhe ohne Schnürsenkel.


Der missratene Entwurf

Im Schreibzimmer: Licht.
Der Autor sitzt am Tisch und schreibt. Mit einem Kugelschreiber und einem dicken Packen Papier entwirft er die erste Szene seines Stücks. Schreibt, streicht, schüttelt den Kopf. Schreibt weiter, überlegt. Schreibt, zerknüllt Papier. Steht vom Schreibtisch auf, läuft auf und ab, denkt nach. Hat eine Idee, setzt sich wieder. Rauft sich die Haare. Schreibt weiter.
Zur gleichen Zeit in der Küche: Halbdunkel. Mutter, Vater und Sohn betreten nacheinander den Raum. Solange der Autor die Figuren schreibend entwickelt, sind sie noch barfuß und in schlichte weiße Gewänder gekleidet. Schweigend, ohne voneinander Notiz zu nehmen, gehen alle drei, die Augen zu Boden gerichtet, in steifen Bewegungen zum Kleiderschrank, entnehmen einzelne Kleidungsstücke und Schuhe, gehen damit durch die Küche hinaus in den rückwärtigen Flur. Kehren zurück, öffnen erneut den Schrank, tauschen die Kleidungsstücke gegen andere aus. Gehen mit diesen hinaus, kehren zurück, und so fort ...
Es ist ein wortloses Kommen und Gehen, solange, bis sich der Autor in seinem Schreibzimmer entschieden hat: Die Mutter greift sich das rosa Negligee und die Pumps, der Vater den Nadelstreifenanzug mit Hemd, Krawatte und Straßenschuhen, der Sohn den Neoprenanzug mit Taucherbrille und Flossen. Alle treten ab in den rückwärtigen Flur, ziehen sich an.

Anmerkung: Um das Agieren der Figuren "in der Rolle" / "außerhalb der Rolle" zu verdeutlichen, wird mit breiten Reifen (z. B. aus Pappkarton) gearbeitet, in die die Akteure hinein-/bzw. aus denen sie heraussteigen: An Schnüren oder Hosenträgern baumeln diese Reifen den Schauspielern um die Hüften (sie sollten jedoch nicht zu breit sein, um nicht zu viel vom Kostüm zu verdecken).

Der Autor öffnet eine Flasche Wein, macht einen zufriedenen Eindruck, schreibt weiter.
In der Küche geht das Licht an. Die Mutter kommt herein, in ihrer Rolle, gekleidet in das rosa Negligee, an den Füßen die Pumps, in denen sie ungelenk herumstöckelt. In einer Hand schwenkt sie hektisch ein amerikanisches Papierfähnchen.

MUTTER laut: Hoffen, dass es keinen Krieg gibt! Die amerikanischen Verbündeten des alten Europa werden ihn zu verhindern wissen!
Der Autor streicht, zerknüllt die Seite, wirft sie in den Papierkorb. Abrupt hält die Mutter inne, geht steif hinaus, kommt wieder herein, spielt die Szene von vorn:
MUTTER laut: Hoffen, dass es keinen Krieg gibt! Unsere amerikanischen Verbündeten werden ihn schon zu verhindern wissen!
Der Autor streicht wieder, unzufrieden, die Mutter geht hinaus, kommt noch einmal.
MUTTER laut: Hoffen, dass es keinen Krieg gibt! Unser guter Freund George W. Bush wird die Welt davor bewahren!
Der Autor jubelt über diesen Einfall, reibt sich die Hände, schreibt weiter. Die Mutter zupft an ihrem Negligee herum, fühlt sich sichtlich unwohl. Geht zur Arbeitsplatte, betrachtet einen Karton Cornflakes, drei tiefe Teller.
MUTTER affektiert: Cornflakes sind für meine Familie der richtige Start in den Tag! Sie greift nach dem Karton, schüttet die Cornflakes in die Teller, verschüttet einen Teil auf den Boden. Will sich nach den verschütteten Flocken bücken, merkt, dass das in dem kurzen Negligee nicht geht. Schüttelt den Kopf, schaut sich Hilfe suchend um.
AUTOR zufrieden zu sich selbst: Na? Das ist es doch! Schaut auf sein Papier, hält inne, schreibt weiter.
Die Mutter versucht wieder, sich zu bücken.
AUTOR: Denen werd' ich's schon zeigen!
MUTTER macht einen letzten Versuch, sich zu bücken, steigt schließlich genervt aus ihrer Rolle, wirft die Rolle ins Zimmer. Himmel, so geht das nicht! So kann ich nicht arbeiten! Schaut nach oben, dann zur Wand. Geht langsam auf die Wand zu, tastet sie mit beiden Händen ab, lauscht. Ruft zaghaft: Hallo ...?
Der Autor schreibt weiter.
MUTTER noch einmal, lauter: Hallo!
Der Autor lehnt sich zurück, betrachtet kritisch seinen Text, steht auf, geht auf und ab, setzt sich wieder.
MUTTER klopft mit einer Faust gegen die Wand, ruft: Hallo! Ist da wer?
Der Autor greift sich irritiert an den Kopf, schaut sich suchend um. Betrachtet die Weinflaschen auf dem Boden, dann seine Papiere.
MUTTER zornig: Hallo! Ja, hört mich denn keiner?
AUTOR hält sein beschriebenes Papier hoch. Wie, wer?
MUTTER: Na, endlich!
Der Autor schaut sich erschrocken um.
MUTTER: Ja, du da! Ich rede mit dir!
AUTOR betrachtet das Papier von beiden Seiten. Entsetzt: Das hat es ja noch nie gegeben!
MUTTER: Was hat es noch nie gegeben?
AUTOR: Dass mich eine meiner Figuren anspricht!
MUTTER bettelnd: Bitte, nur das eine Mal! Es soll auch nicht wieder vorkommen!
AUTOR irritiert: Das sagt sich so leicht! Das eine Mal ist schon schlimm genug!
MUTTER: Es ist aber ein Notfall!
AUTOR wühlt in seinen Papieren. Und wie komme ich da jetzt wieder raus?
MUTTER betrachtet ihr Negligee. Ja, genau das frage ich mich gerade: wie ich da wieder rauskomme!
AUTOR schimpft: Himmel noch mal, du versaust mir den Anfang meiner ersten Szene!
MUTTER: Ach was; so gut war dein Einstieg nun auch wieder nicht!
AUTOR: Nicht?
MUTTER: Wenigstens nicht in dem Kleid!
AUTOR: Was heißt: nicht in dem Kleid?
MUTTER: In dem Kleid kann ich nicht arbeiten!
...



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